Aus der Arbeit an der Neuauflage von Die neue Erfahrung des Übersinnlichen
Die neue Erfahrung des Übersinnlichen
Das anthroposophische Erkenntnisdrama unserer Zeit
Aus dem Vorwort
“Von jetzt ab gibt es eine neue Offenbarung des Christus.Wir wollen bereit sein, sie anzuerkennen, wir wollen zu jenem kleinen Kreis gehören, der dazu helfen will, damit sie größer, dauernd werde,wir wollen auf die innere Kraft einer solchen Offenbarung bauen, sodaß sie sich unter der übrigen Menschheit ausbreiten möge, denn diese Erkenntnis wird allmählich allen zuteil werden. Dies ist es, was wir Weisheit nennen, was manche Torheit nennen mögen. Um fest dazustehen, brauchen wir uns nur heute daran zu erinnern, daß diese jetzige Zeit diejenige der zweiten Michael-Offenbarung ist, und auch daran, was von einem der alten Eingeweihten gesagt wurde zur Zeit der ersten Michael-Offenbarung: Was den Menschen oft als Torheit erscheint, ist vor Gott Weisheit.”
Rudolf Steiner, am Ende des Vortrages vom 2. Mai 1913, GA 152
Rudolf Steiner hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das größte geistige Ereignis unserer Zeit die Erscheinung des ätherischen Christus ist, die in den 30iger Jahren des letzten Jahrhunderts beginnen wird. Die geistige Wahrnehmung seiner ätherischen Erscheinung wird das Ergebnis des natürlichen Auftretens von neuen, bewussten, übersinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten sein. Das moderne „Damaskus-Erlebnis“ wird, wie das bei Paulus der Fall war, ein natürlich gegebenes Einweihungsgeschehen sein. Die Menschen, die diese Einweihung durchlaufen, „werden keine dokumentarischen Beweise benötigen, um Christus zu erkennen, sondern sie werden ein direktes Wissen haben, wie es heute nur die Eingeweihten besitzen.“ Diese Entwicklung ist eine Folge des inneren Gesetzes, das der spirituellen Entwicklung des menschlichen Bewusstseins zugrunde liegt. Dieses Gesetz besagt, dass „alle Fähigkeiten, die heute nur durch Einweihung erworben werden können, in Zukunft universelle Fähigkeiten der Menschheit sein werden. Diese Verfassung der Seele, dieses Erleben der Seele, wird in der Esoterik die ‚Wiederkunft Christi‘ genannt.“
Seit dem Mysterium von Golgatha lebt der Christus innerhalb der irdischen Sphäre und ist unaufhörlich in ihr tätig. Aber während des größten Teils dieser Periode befand sich die Menschheit noch in der Epoche der Verstandesseele, oder unter deren Nachwirkungen. Ihre Annäherung an den Christus war durch diese Tatsache bedingt und gründete sich hauptsächlich auf die Religionen und mystischen Pfade des Mittelalters. Das Denken, wie auch das selbstbewusste übersinnliche Erleben und Forschen, musste vor einer solchen unmittelbaren Erkenntnis bescheiden zurücktreten, und das geschah im Zeitalter der Verstandesseele aus durchaus notwendigen und berechtigten Gründen. Im Zeitalter der Bewusstseinsseele und besonders seit dem Beginn des neuen Michael-Zeitalters und des neuen Lichtzeitalters kann jedoch das Wesen und Wirken des Christus zum ersten Mal zum Ziel völlig individualisierter menschlicher Erfahrung und Forschung werden. Die anthroposophische Geisteswissenschaft ist genau das: Die frei erworbene menschliche Erkenntnis eines durch und durch Christus-durchdrungenen und verwandelten Universums, einer durch und durch Christus-durchdrungenen Natur und menschlichen Entwicklung und Geschichte. Je mehr sich die Epoche der Bewusstseinsseele entwickelt und je mehr sie aus den intellektuellen Rückständen ihrer unmittelbaren Vergangenheit hervortritt, desto mehr wird diese Seele in ihrer wahren Natur erkannt. Und ihre wahre Natur ist in der Tat bereits hochspirituell. Spirituell aber heißt souverän, schöpferisch und aktiv, innerlich entflammt vom Feuer der Liebe und der Begeisterung für die Geheimnisse der Welt und des Menschen, und vollständig durchstrahlt und durchdrungen von den Kräften des klaren, präzisen und lebendigen Denkens und der Imagination. Sie erlebt jegliche Passivität, Gegebenheit und Unklarheit nur als Widerstand, auf dem sie ihre eigenständigen kognitiven und moralischen Kräfte entfalten und stärken kann. Diese Eigenschaften der Bewusstseinsseele sind es, wenn sie wirklich entwickelt sind, die sie dazu befähigen, sich mit den neuen, sich natürlich entwickelnden Fähigkeiten der übersinnlichen Wahrnehmung auseinanderzusetzen, die das moderne Christus-Erlebnis als natürliches Einweihungsereignis herbeiführen, weil sie in diesem Ereignis eine unendliche Quelle von Möglichkeiten für die zukünftige Stärkung und Spiritualisierung der ihr innewohnenden Geisteskräfte findet.
Es ist daher die Natur der einzigartigen geistigen Entwicklung der menschlichen Seele an der Schwelle des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, die nicht nur den Inhalt des vorliegenden Buches bestimmt, sondern vor allem auch seine Form. Wir gehen einerseits von einer gegebenen übersinnlichen Christus-Erfahrung aus; dann aber machen wir diese zum Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Forschung. Wir verweben also das Gegebene und das Nichtgegebene, die exoterische und die esoterische Seite der modernen Christus-Erfahrung miteinander. Rudolf Steiner hat, wie oben erwähnt, dieses Erlebnis als ein natürlich gegebenes Ereignis charakterisiert, durch das der Mensch eine direkte Erkenntnis des Christus haben wird, die früher nur der Eingeweihte erlangen konnte.
Das wird einem solchen Menschen neue geistige Fähigkeiten und Möglichkeiten geben, die er und sie auf verschiedene Aspekte des Lebens anwenden kann. Die Aufgabe der Geisteswissenschaft besteht darin, diese gegebenen Fähigkeiten auf die Erforschung des Wesens anzuwenden, welches sie der Menschheit anbietet: auf den ätherischen Christus Selbst. So ist es die Aufgabe der Geisteswissenschaft, diese gegebene Einweihungstatsache in eine anthroposophische Einweihungswissenschaft zu verwandeln, so wie sie die sinnlich wahrnehmbare Erscheinung der Pflanze in die geisteswissenschaftliche Erforschung des Seins und Werdens der Pflanze verwandelt.
Aus einem anthroposophischen, geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkt ist jede Erfahrung, sei sie sinnlich oder übersinnlich, eine gegebene und daher als solche eine äußere Tatsache. Solange sie nicht von den aktiven und selbstständigen Denk- und Vorstellungskräften der Bewusstseinsseele gründlich durchdrungen und umgestaltet wird, bleibt sie ein persönliches, subjektives Ereignis, das ungeachtet seines persönlichen Wertes in dieser Form nicht zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung werden kann. Für die Geisteswissenschaft muss daher ein solches Erlebnis zunächst zum Gegenstand anthroposophischer Forschung werden, wie sie in diesem Buch beschrieben wird.
Das bedeutet, dass wir durch die Geisteswissenschaft eine wechselseitige Verbindung errichten können mit der gegebenen Christuserfahrung und den geistigen Fähigkeiten, die sie in der menschlichen Seele erweckt. Wie wir weiter unten zeigen werden, verstärken sich die den ätherischen Christus erfassenden, von Ihm gegebenen neuen Fähigkeiten und die spirituelle Tätigkeit der Geisteswissenschaft gegenseitig, weil beide aus der gleichen Quelle stammen. Das eine ist ein Gnadengeschenk, das gemäß dem Karma gegeben wird, das andere ist eine voll bewusste und gewollte geistige Tätigkeit, die von unserer gegenwärtigen Freiheit abhängt. Das eine bringt seine spezifischen Fähigkeiten und Kräfte in das andere ein und wird seinerseits durch das andere bereichert, vertieft und gestärkt. Wir vergeistigen die bewusste Tätigkeit der Geisteswissenschaft durch die Gabe der Christus-Erfahrung und die von ihr angebotenen geistigen Fähigkeiten, und wir erforschen die Christus-Erfahrung mit den Mitteln der erneuerten und vergeistigten Geisteswissenschaft. Die moderne Christus-Erfahrung und die neuen geistigen Fähigkeiten, die sie wahrnehmen, und die bewusste geisteswissenschaftliche Tätigkeit verstärken sich gegenseitig. Die beiden Ströme wachsen gemeinsam immer inniger zusammen. Der Christus erinnert uns daran, dass Rudolf Steiner die Geisteswissenschaft ursprünglich aus der direkten Begegnung und Zusammenarbeit mit dem Christus, mit Michael und mit der Anthroposophia in den geistigen Welten entwickelt hat. Wenn wir die von Christus gegebenen Kräfte nutzen, um die Geisteswissenschaft auf der Erde zu spiritualisieren, dann tun wir das mit den Kräften, mit denen Rudolf Steiner zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Geisteswissenschaft geschaffen hat. Aber das moderne Christus-Erlebnis verbindet uns mit der Quelle des gegenwärtigen Michael-Stroms und mit dem realen Wesen der Anthroposophie in der ätherischen Welt. Und die Aufgabe unserer Arbeit war es, im Laufe der Jahre die alte Anthroposophie mithilfe der neuen Anthroposophie direkt an ihrer gegenwärtig aktiven geistigen Quelle umzuwandeln, bis die beiden immer mehr zu einem irdisch-geistigen Strom wurden. Deshalb kann man sagen, dass die gegenseitige Überkreuzung, Befruchtung und Umwandlung zwischen irdischer und übersinnlicher Anthroposophie, das Thema dieses Buches ist. Und die Mitte, in der sich alte und neue Anthroposophie treffen, ist das moderne Christus-Erlebnis. Durch das moderne Christus-Erlebnis wird die irdische Anthroposophie fortwährend auferweckt, erneuert und verjüngt und vereinigt sich mit ihrem eigentlichen geistigen Wesen in der ätherischen Welt, und gleichzeitig wird das Christus-Erlebnis immer mehr bewusst und erhellt durch die spirituellen Erkenntnisse der Geisteswissenschaft auf der Erde.
Dieses Buch versucht, zwei Fragen zu beantworten, die sich aus der modernen Christus-Erfahrung ergeben.
Erstens: Was ist das Wesen der modernen Christuserfahrung?
Und zweitens, welche geisteswissenschaftliche Forschungsmethode sollte entwickelt werden, um sie zu erforschen?
Im Vorwort skizzieren wir unsere Antwort auf beide Fragen.
Das moderne Christus-Erlebnis ist das zentrale Ereignis in der gegenwärtigen und zukünftigen spirituellen Entwicklung der Menschheit, das in der Geisteswissenschaft als ätherische Wiederkunft bezeichnet wird, die 1933 begann und sich in den nächsten 3000 Jahren fortsetzen wird. Die esoterische Bedeutung dieses Ereignisses ist nach Rudolf Steiner die Gabe einer Ich-Kopie des Christus und deren Empfang durch das freie menschliche „Ich“.
Die Begegnung mit dem Ätherischen Christus
Der erste wichtige Aspekt der Begegnung mit dem ätherischen Christus in der ätherischen Welt ist, dass sie ein Gnadengeschenk ist, da sie durch den Christus initiiert und gegeben wird. Rudolf Steiner betont, dass zwischen dieser Begegnung und der Art und Weise, wie ein Eingeweihter den Christus in der geistigen Welt wahrnimmt, ein „ungeheurer Unterschied“ besteht:
“Es ist ein großer Unterschied zwischen dem, was die geschulten Hellseher erleben, und dem, was hier geschildert wird, was naturgemäß erlebt wird. Der geschulte Hellseher erlebt den Christus seit undenklichen Zeiten durch gewisse Übungen. Auf dem physischen Plan, wenn ich da einem Menschen begegne, so habe ich ihn vor mir; hellseherisch kann ich ihn wahrnehmen an ganz anderen Orten, da trete ich ihm nicht unmittelbar gegenüber. Hellseherisch wahrnehmen den Christus, ist immer möglich gewesen. Aber ihm zu begegnen, weil Er jetzt anders zur Menschheit steht, nämlich so, daß er einem von der Ätherwelt aus hilft, das ist etwas, was – außer uns – eine von unserer hellseherischen Entwickelung unabhängige Tatsache ist. Vom zwanzigsten Jahrhundert an, in den nächsten dreitausend Jahren werden gewisse Menschen ihm begegnen können, ihm objektiv als ätherischer Gestalt dann begegnen. Das ist etwas anderes, als wenn ein Wesen durch innere Entwickelung bis zu seinem Anblick hinaufsteigt.”
Vortrag vom 17.9.1911, GA 130
Diese Begegnung ist daher eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht, und so wie wir auch erleben können, wenn wir einem anderen Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnen, wird durch das Gesicht das ganze Wesen des anderen offenbart und erfahren. Und in der Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit dem Christus wird ein höchst heiliges Ereignis erlebt, bei dem sich das menschliche „Ich“ und das Christus-„Ich“ gegenüberstehen und das erleben, was zwischen ihnen geschieht. Was bei der gewöhnlichen menschlichen Begegnung meist unbewusst bleibt, wird bei der ätherischen Begegnung mit dem ätherischen Christus voll bewusst. Natürlich hat diese Begegnung viele, wirklich unendlich viele Aspekte, die man beschreiben könnte. Aber wenn wir nach dem Ur-Phänomen des modernen Christus-Erlebnisses suchen – und das ist die Aufgabe des Erkenntnisdramas der Wiederkunft -, dann müssen wir das, was in der Begegnung geschieht, folgendermaßen beschreiben.
Das Geschenk der Ich-Kopie des Christus
Während der Begegnung erkennen wir, dass der Christus uns ein gnadenvolles Geschenk macht, die Keimkraft und das Wesen Seines eigenen Selbst. Das Mysterienereignis, das sich zwischen dem Christus-Selbst und dem menschlichen Selbst in der Begegnung von Angesicht zu Angesicht abspielt, kann nur durch Rudolf Steiners Untersuchungen dieses Ereignisses ins volle Licht des spirituellen Bewusstseins und der spirituellen Erkenntnis gebracht werden. Und der Grund dafür, dass die Geisteswissenschaft die Quelle des Lichtes ist, welches diese Begegnung mit dem klarsten und innigsten Licht der geistigen Erkenntnis erhellen kann, ist die Tatsache, dass das ursprüngliche Licht der Geisteswissenschaft durch Rudolf Steiners Christus-Erlebnis geschaffen wurde. Wahre Anthroposophie ist eine Gabe des Christus, und das Licht, das den Weg zur Christus-Erkenntnis bereitet, ist das Licht Seiner Weisheit, die Sophia des Christus. Wenn Seine Ich-Gabe individualisiert wird – und das Ereignis des Geschenks ist sein Nachvollzug im freien menschlichen Ich -, dann gebiert der Mensch selbst das Wesen der Anthroposophia, das Wesen unseres wahren Menschseins.
Über dieses Ereignis sagte Rudolf Steiner, dass diejenigen, die es erleben, reif sein werden “im Anblick jener heiligen Schale das Mysterium von dem Christus-Ich, von dem ewigen Ich, zu dem jedes Menschen-Ich werden kann, kennenzulernen” … Sie können “das Christus-Ich im Anblick des Heiligen Gral zu empfangen.” … “Dann aber, wenn die Menschen immer mehr vorbereitet sein werden zum Empfang des Christus-Ich, dann wird sich das Christus-Ich immer mehr in die Seelen der Menschen ergießen. Sie werden dann sich hinaufentwickeln dahin, wo ihr großes Vorbild, der Christus Jesus, stand.”
Vortrag vom 11. April 1909, GA 109