Die Ur-Phänomene der modernen Christus-Erfahrung

Paulus’ Christus-Erfahrung und die Geburt des christlichen Platonismus

Aus dem Buch:

Die Drei Begegnungen
Christus, Michael, Anthroposophia

Aus dem 1. Kapitel

Rudolf Steiners geisteswissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass das Erlebnis des Paulus vor den Toren von Damaskus ein Urbild für die Erfahrung des ätherischen Christus in Seiner Wiederkunft ist, die für immer mehr Menschen seit den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts und in den kommenden 3000 Jahren möglich werden wird. Die meisten Vorträge Rudolf Steiners über die ätherische Wiederkunft sind zusammengefasst in GA 118 und GA 130. [1]

Die Einzigartigkeit von Paulus‘ Erfahrung bestand darin, dass sie drei Ströme in einer völlig neuen spirituellen Synthese vereinte . Erstens empfing Paulus die Gabe der neuen geistigen Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, den ätherischen Christus als ein gegebenes Ereignis zu erfahren. Für die Menschheit beginnen diese Fähigkeiten erst seit 1933 aufzutreten. Zweitens war Paulus umfassend in der griechischen und römischen Denkweise seiner Zeit geschult. Und drittens war er vor dieser Erfahrung auch ein „Eingeweihter der alten Kabbala“. [2] Daher war es seine Pionieraufgabe, diese drei zu einem Strom zu vereinen, spiritualisiert durch den neuen Christus-Impuls. Seine Mission war es, aus den dreien die neue Synthese des christlichen Einweihungsweges zu bilden, unter vollständiger Berücksichtigung der Tatsache, dass nach der Menschwerdung Christi – beginnend mit Platon und Aristoteles – die kosmische Sonnenintelligenz die Hände Michaels verlässt und auf die Erde herabsteigt. Diese Synthese war die originäre geistige Schöpfung des Paulus. Das heißt, die paulinische, bewusst erforschte Christus-Erfahrung ist das erste – und archetypische – Beispiel für die selbstbewusste und freie, aktive wechselseitige Verbindung zwischen der Christus-Erfahrung, dem Denken und dem Einweihungsprinzip, die zusammen eine klare und präzise Christus-Erkenntnis ermöglichen. Die gleiche Synthese muss auch heute erreicht werden, und zwar durch unsere individuelle geistige Tätigkeit, durch die moderne Geisteswissenschaft.

Die Essenz der geistigen Schöpfung des Paulus ist heute noch dieselbe wie vor 2000 Jahren, denn es ist der ätherische Christus, der im Zentrum dieser Schöpfung steht. Unsere Aufgabe ist es, alle Kräfte der Bewusstseinsseele durch die Geisteswissenschaft in die Begegnung mit dem ätherischen Christus einzubringen, um die moderne Christus-Erfahrung zu erforschen, so wie Paulus es mit den Kräften der Verstandes- und Gemütsseele im vierten nachatlantischen Zeitalter getan hat.

Rudolf Steiner charakterisierte die einzigartige Schöpfung des Paulus, die er die “paulinische Methode”‘ nennt, folgendermaßen:

”Der erste, welcher eine Impression hatte von der kosmischen Bedeutung des Christus, war Paulus; Paulus, der wahrnehmen konnte, wie hereingeströmt war die Kraft der Christus-Wesenheit in die Erdenaura. Dasjenige, was dem Paulus für einen bestimmten Punkt der Christus-Erkenntnis aufgegangen war, das kann, wenn wir den Okkultismus unserer Tage vertiefen, für weitere Felder der Christus-Erkenntnis dem Menschen aufgehen. Denn indem das Schauen des Paulus … ausgedehnt wird von dem, was bei Paulus fast nur die Wahrnehmung ist des Jesus von Nazareth, auf das Leben des Christus Jesus, dann wird gewissermaßen die paulinische Methode von einem einzigen Zentrum aus über die ganze große Erscheinung des Christus Jesus-Lebens verbreitet. Indem wir auf diese Weise heute durch eine hingebungsvolle okkulte Forschung in die Lage kommen können, die Paulinische Methode gleichsam allgemein zu machen für die Christus-Erkenntnis, hat sich ein wirklicher Fortschritt in der Erkenntnis des Christus vollzogen.“ [3]

Für diejenigen, die heute danach streben, eine individualisierte „paulinische Methode“ zur Erforschung des modernen Damaskus-Ereignisses zu entwickeln, ist dieser Hinweis von großer Bedeutung, weil er das Damaskus-Ereignis verknüpft mit den grundlegenden Problemen und Aufgaben im Erlangen geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse, in der physischen und in der geistigen Welt. Dies wird unmittelbar deutlich, wenn Rudolf Steiner darauf hinweist, dass das erste Problem, auf das Paulus aufgrund seiner Christus-Erfahrung stieß, die Frage nach der wahren Natur des menschlichen Denkens war:

Für diejenigen, die heute danach streben, eine individualisierte „paulinische Methode“ zur Erforschung des modernen Damaskus-Ereignisses zu entwickeln, ist dieser Hinweis von großer Bedeutung, weil er das Damaskus-Ereignis verknüpft mit den grundlegenden Problemen und Aufgaben im Erlangen geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse, in der physischen und in der geistigen Welt. Dies wird unmittelbar deutlich, wenn Rudolf Steiner darauf hinweist, dass das erste Problem, auf das Paulus aufgrund seiner Christus-Erfahrung stieß, die Frage nach der wahren Natur des menschlichen Denkens war:



„So kam Paulus dazu, einzusehen, daß die Menschheitsentwickelung von einem Feinde ergriffen war, und daß dieser Feind der Quell des Irrtums auf der Erde ist. … Nur in einer Welt – so konnte jetzt Paulus empfinden – , in welcher ergriffen wird die menschliche Wesenheit von den ahrimanischen Mächten, kann der Irrtum eintreten, der zum Kreuzestod hat führen können. Und jetzt, als er das begriffen hatte, erkannte er eben erst die Wahrheit des esoterischen Christentums. … Die Aufnahme des Todes in das Leben, das ist das Geheimnis von Golgatha. Vorher hatte man das Leben ohne den Tod gekannt, jetzt lernte man den Tod als einen Bestandteil des Lebens kennen, als ein Erlebnis, welches verstärkt das Leben. … Die Menschheit muß stärker leben, wenn sie durch den Tod durchgehen will und dennoch leben will. Und der Tod bedeutet … den Intellekt … der Intellekt macht uns innerlich kalt, macht uns innerlich tot. Der Intellekt lähmt uns. Wir leben eigentlich nicht, wenn wir den Intellekt entwickeln. Man muß das nur empfinden, daß man ja eigentlich nicht lebt, wenn man denkt, daß man sein Leben ausgießt in tote Verstandesbilder. … Das habe ich versucht darzustellen in meiner Philosophie der Freiheit. Diese Philosophie der Freiheit ist eigentlich eine Moralanschauung, welche eine Anleitung dazu sein will, die toten Gedanken als Moralimpulse zu beleben, zur Auferstehung zu bringen.“[4]

Und weiter:

“Was Paulus meinte mit dem auferstandenen Christus, war, daß der Christus den Tod zu erleben hatte und erlebt hat, daß er aber über den Tod siegte, daß er als Geistig-Lebendiges siegreich mit der Auferstehung aus dem Tode hervorgegangen ist und seither mit der Menschheit weiterlebt für diese Menschheit, die ohne den Christus nur das tote Denken hätte. … Während früher das Denken in alten Zeiten selber noch seinen lebendigen Charakter auf das Erdenleben heruntergetragen hat, kann sich die Erdenseele seit dem dritten, vierten Jahrhundert … im unmittelbaren Anblick des Mysteriums von Golgatha das Denken auferwecken lassen.” [5]

Selbstverständlich verwendet Rudolf Steiner, wenn er von der Philosophie der Freiheit im Zusammenhang mit der ”Paulinischen Methode”, der Epistemologie oder der ”Erkenntnistheorie” spricht, diese Begriffe nicht im gewöhnlichen philosophischen Sinn. Rudolf Steiner und Paulus sind Geisteswissenschaftler, nicht bloße Denker, und deshalb betrachten beide die Spiritualisierung des Denkens als die erste Stufe der wirklichen übersinnlichen empirischen Erfahrung. Die Philosophie der Freiheit ist nicht ein gewöhnliches philosophisches Buch, für das es oft gehalten wird. Es ist genauso empirisch und wissenschaftlich wie jedes andere anthroposophische Buch oder jeder Vortrag Rudolf Steiners, und wenn wir es als ein solches erleben, werden wir durch das Denken erfahren, dass wir an einer lebendigen geistigen Wirklichkeit teilnehmen, und wir werden in der Lage sein, die Mitteilungen aus den höheren Welten nicht nur zu verstehen, sondern auch die Realität dieser Mitteilungen zu erleben, weil wir das wirkliche geistige Leben bereits durch reines und intuitives Denken erfahren haben.

„Das Geheimnis des esoterischen Christentums: die Aufnahme des Todes in das Leben“, welches Paulus‘ bedeutendste Entdeckung vor 2000 Jahren war, ist auch die grundlegende Entdeckung, die in der gegenwärtigen ätherischen Christus-Erfahrung gemacht wird. Die Überwindung der unserem modernen ahrimanischen Intellekt innewohnenden Todeskräfte ist in der Tat der Ausgangspunkt für das Erkenntnisdrama der Wiederkunft, das im 5. Kapitel der Neuen Erfahrung des Übersinnlichen dargestellt wird, wie weiter unten beschrieben. Und die Quelle der Auferstehungskräfte, welche die Überwindung des Todes möglich machen, werden gefunden in der Erscheinung, in den Worten und in den Taten des ätherischen Christus. Daher ist dies auch die Quelle für unsere Suche nach einer „Paulinischen Methode“, um das gegenwärtige Christus-Ereignis in die Geisteswissenschaft zu bringen. Dazu müssen wir, so wie Paulus es tat, unsere Beobachtung auf das Wesen des Christus selbst richten …



Anmerkungen:

[1] Die meisten Vorträge Rudolf Steiners über die ätherische Wiederkunft sind zusammengefasst in GA 118 und GA 130.

[2] Vortrag vom 31. Mai 1909, GA 109/111.

[3] Vortrag vom 27. Mai 1914, GA 152. Meine Hervorhebungen. Das ist die Bedeutung des Erkenntnisdramas der Wiederkunft.

[4] Vortrag vom 2. April 1922, GA 211. Meine Hervorhebungen. Im neunzehnten Jahrhundert hatte der Todesprozess des Denkens eine weitere, gewaltige Beschleunigung erreicht: „Der Sündenfall … hat zuletzt auch den Intellekt beeinflußt; der Intellekt fühlte sich [im neunzehnten Jahrhundert] an den Grenzen der Erkenntnis. Und ob der alte Theologe von der Sünde oder Du Bois-Reymond von den Grenzen des Naturerkennens spricht, ist im Grunde genommen ein und dasselbe, nur in einer etwas andern Form.“ (Vortrag vom 21. Januar 1923, GA 220) Das zweite Mysterium von Golgatha (das im 4. und 5. Kapitel untersucht wird) hat seine Wurzeln in diesem intellektuellen zweiten Sündenfall des Menschen.


[5]Vortrag vom 15. April 1922, GA 211.