Die drei Begegnungen

Die drei Begegnungen 
Christus, Michael und Anthroposophia

Ein Auftakt zur Neuauflage von Die neue Erfahrung des Übersinnlichen

Aus dem ersten Kapitel: Die platonisch-aristotelische Synthese am Ende des 20sten Jahrhunderts

In Die neue Erfahrung des Übersinnlichen haben wir gezeigt, dass die Grundstruktur des Buches ein Ausdruck der beiden Säulen der modernen Christuserfahrung ist: die gegebene Christuserfahrung und die bewusst entwickelte Christuserfahrung. Die gegebene Erfahrung wird in Kapitel 4 beschrieben und die bewusst entwickelte Erfahrung in Kapitel 5, in dem, was wir das Erkenntnis-Drama des Wiedererscheinens nannten. 

Das Buch gründet sich daher auf die Beziehung zwischen der gegebenen und der bewusst entwickelten Christus-Erfahrung. Sie kann, philosophisch gesprochen, als die kognitive Verbindung zwischen der „gegebenen Wahrnehmung“ und dem „aktiv erzeugten Begriff“ betrachtet werden. Mit unseren Sinnen nehmen wir alle ständig Dinge wahr. Aber wie oft halten wir tatsächlich inne, um über ihre Natur, ihr Sein und ihr Werden nachzudenken und sie zu erforschen? Meistens gehen wir einfach weiter, weil wir mit anderen Dingen beschäftigt sind. Noch bildhafter können wir es mit der Sprache der Gralsgeschichte ausdrücken. Ihre erkenntnismäßige Grundstruktur ist dieselbe. Sie beschreibt den Weg, der weiterführt von dem bloß wahrgenommenen und gegebenen Eindruck, wie ihn Parzival bei seinem „ersten Besuch“ auf der Gralsburg erlebt. Er hat die Wunder der Gralsprozession und die Qualen des Fischerkönigs nur „gesehen“, aber er hat nicht nachgefragt. Er stellte keine Fragen zu dem, was er sah und erlebte, denn das Erlebnis der Gralsmysterien blieb nur eine „gegebene Wahrnehmung“. Die Wahrnehmung des verwundeten und leidenden Fischerkönigs verblieb als gegebene Wahrnehmung, über deren Ursachen Parzival nicht nachdachte und die er nicht hinterfragte. Er dachte nicht darüber nach und stellte deshalb auch keine Frage. Erst nach vielem Leid und Zweifeln erkannte er sein Versäumnis und suchte bewusst den Weg zurück zur Burg, der ihn durch „sechzig Meilen“ der Bewährung führte. Und, beim zweiten Besuch verstand er, was er beim ersten Besuch nur erlebt hatte. Er fügte der gegebenen Wahrnehmung die aktiv gebildete Vorstellung hinzu, erkannte die Wahrheit der Situation und handelte entsprechend. Ein anderes bedeutsames Bild, das wir oft betrachten, basiert auf Goethes Märchen Die grüne Schlange und die schöne Lilie, in dem der Bau der Brücke beschrieben wird, welche die gegebene geistige Erfahrung mit der bewusst durchgeführten geistigen Forschung verbindet.

Das Ziel unserer geisteswissenschaftlichen Forschung ist die Entwicklung der menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis von der gegebenen übersinnlichen Christuserfahrung, der übersinnlichen „Wahrnehmung“, hin zur vollbewussten geisteswissenschaftlichen Forschung, um den bewusst geschaffenen „Begriff“ für diese „Wahrnehmung“ zu erzeugen. In diesem Fall ist die „Wahrnehmung“ die Erscheinung, die Welt und die Handlungen des ätherischen Christus, und der „Begriff“ ist die voll bewusste geistige Forschung, die im Erkenntnisdrama der Wiederkunft durchgeführt wird. Die übersinnliche „Wahrnehmung“ wird in Kapitel 4 mit dem Titel „Die moderne Christuserfahrung – Die Begegnung mit dem neuen Initiator“ beschrieben. Der geisteswissenschaftliche Schöpfungsprozess des zugehörigen „Begriffs“ dieser Erfahrung wird in Kapitel 5, Das Erkenntnisdrama der Wiederkunft, beschrieben. Kapitel 4 stellt die „Wahrnehmung“ und Kapitel 5 den „Begriff“ der modernen Christuserfahrung dar.

Die Philosophie der Freiheit erwies sich als die fruchtbarste Grundlage für das Erkenntnisdrama und den Bau der Goetheschen Brücke. Sie diente uns auch dazu, die für diese Forschung notwendige Synthese zwischen den platonischen und aristotelischen geistigen Kräften zu schmieden. Sie bildet die grundlegende geisteswissenschaftliche Methode, welche es am Ende des 20. Jahrhunderts ermöglichte, die gegebene ätherische Christuserfahrung in eine voll bewusste übersinnliche Erfahrung zu verwandeln. In dieser Einführung beschreiben wir den Entstehungsprozess dieser in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten Synthese. Natürlich wird es etwas biografisch, wenn man nach 30 Jahren ein solches Vorwort für die Neuauflage schreibt, denn bei der Gralssuche sind der allgemeine und der persönliche Aspekt des spirituellen Weges eng miteinander verflochten.

Im ersten Vortrag des Jahrestreffens der Schule für Geisteswissenschaft im Februar 2019, „Die grundlegende Amfortas-Parzival-Dualität“ [dieser Vortrag ist in Menschendämmerung und Auferstehung der Menschheit veröffentlicht], habe ich einige grundlegende Aspekte dieses persönlich-überpersönlichen Weges beschrieben. Hier werde ich mich auf die Bildung der platonisch-aristotelischen Synthese konzentrieren.