Wie kommt der ätherische Christus in die Anthroposophie?

Auszüge aus dem Buch:

Die drei Begegnungen 
Christus, Michael und Anthroposophia

Auftakt zur Neuauflage von Die neue Erfahrung des Übersinnlichen

Aus dem Vorwort:

Wie Rudolf Steiner sagte, war die ungelöste Frage, mit der Thomas von Aquin starb: „Wie kommt der Christus in das menschliche Denken? Wie wird das menschliche Denken durchchristet?…“ Diese Frage bleibt in der Weltgeschichte stehen, als Thomas von Aquin im Jahre 1274 stirbt. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte er nur zu dieser Frage vordringen, die nun mit aller im Herzen empfundenen Innerlichkeit in der europäischen Geisteskultur steht. (Vortrag vom 23. Mai 1920, GA 74).

Derselben Frage stellte sich ein Jahrhundert früher auch Alanus ab Insulis, der führende Platoniker von Chartres, mit „aller im Herzen empfundenen Innerlichkeit“, wie aus seinem Buch Anticlaudianus und dem darin enthaltenen „Rhythmus über die Inkarnation Christi“ hervorgeht. (Aus dem Lateinischen übersetzt und kommentiert von Wilhelm Rath, in Die Drei, 1951/3 – https://diedrei.org )

Die von Thomas und Alanus ungelöst gebliebene Frage wurde 1894 von Rudolf Steiner in der Philosophie der Freiheit beantwortet, auf der die Anthroposophie aufgebaut ist. Ein Jahrhundert später, am Ende des 20. Jahrhunderts, lebte die Frage erneut mit großem Widerhall auf. Es war eine Frage, die die Anthroposophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht beantworten konnte: Wie kommt der ätherische Christus in die Geisteswissenschaft? Diese Frage blieb in der Weltgeschichte stehen, als Rudolf Steiner 1925 starb. Bis zu diesem Augenblick konnte die Anthroposophie nur zu dieser Frage vordringen, die mit aller herzlichen Innerlichkeit in der geistigen Kultur der Menschheit steht.

Mit dieser Frage fand ich mich Anfang meiner 20er-Jahre konfrontiert, nach der Christus-Erfahrung, als ich begann, Anthroposophie zu studieren. Diese Frage wurde mein intensivstes Anliegen: “Wie kommt der ätherische Christus in die Anthroposophie?” Das neue Damaskusereignis, von dem Rudolf Steiner sprach, war eine Erfahrungstatsache. Aber wie lässt sich diese in die Anthroposophie integrieren? Die Christus-Erfahrung ohne Geisteswissenschaft bleibt eine persönliche Erfahrung. Anthroposophie ohne den Christus-Impuls bleibt lebloses Wissensgut. Beide brauchen sich gegenseitig. Daher widmete ich den ersten Teil meines geistigen Lebens der Vereinigung und Vermählung dieser beiden. Die Vorbereitungen zu dieser heiligen Hochzeit dauerten etwa 15 Jahre und wurden Anfang der 90er Jahre vollendet, und der Geist der Philosophie der Freiheit, die 1994 ihr hundertjähriges Bestehen feierte, amtierte bei der Zeremonie. Und ihr gemeinsames Kind wurde als Die Neue Erfahrung des Übersinnlichen geboren, die 1995, 20 Jahre nach der ursprünglichen Christus-Erfahrung, veröffentlicht wurde.

Wie ich auch an anderer Stelle beschrieben habe, sagte ich mir, nachdem ich Die Philosophie der Freiheit zum ersten Mal gelesen hatte: Sie lässt mich geistig atmen und die Christus-Erfahrung und die Anthroposophie zusammenbringen. Das gleiche geistige Licht erleuchtete die Christus-Erfahrung und die Anthroposophie. Die reine Denktätigkeit der Philosophie der Freiheit belebte die Geisteswissenschaft und hob die Christus-Erfahrung zu klarer und genauer Wahrnehmung. Sie wurde zu einer Quelle des Atmens von Licht und Leben, die in einem immerwährenden rhythmischen Fluss pulsiert und mit deren Hilfe – wie wir weiter unten sehen werden – der ätherische Christus bewusst wahrgenommen und erforscht werden kann. Ich sagte mir: Mit dem licht- und lebensspendenden Denken der Philosophie der Freiheit kann ich auf das Ziel der Vermählung der Anthroposophie mit dem ätherischen Christus hinarbeiten – der ätherische Christus würde durch sie in die Anthroposophie einziehen! Mit großem jugendlichen Enthusiasmus machte ich mich an diese Arbeit, aber natürlich konnte ich in diesem Stadium nicht wissen, wie lang und schwierig dieser Weg werden würde. Ich erkannte bald, dass, indem die Philosophie der Freiheit die Vermählung von Christus und Sophia vorbereitet, ihr zwei mächtige Paten- und Mutterfiguren zur Seite stehen: Plato und Aristoteles. Bei der Arbeit am Brückenbau, der zur heiligen Hochzeit führte, arbeiteten diese drei zusammen. Einige Aspekte dessen, was es brauchte, um sie zusammenzubringen, werden unten in Kapitel 3 beschrieben: Der platonisch-aristotelische Wesenstausch am Ende des 20. Jahrhunderts

Aus dem dritten Kapitel:
Platonisch-Aristotelischer Wesensaustausch am Ende des 20. Jahrhunderts

In den 80er- und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts war meine spirituelle Arbeit dem Schaffen dessen gewidmet, was ich „die Brücke der geistigen Erinnerung und Bewusstseinserhaltung“ nannte, im Sinne von Goethes Märchen. Ich war von der starken Leidenschaft und dem Enthusiasmus durchdrungen, die Anthroposophie und die neue Offenbarung des ätherischen Christus miteinander zu vermählen.

Die erste Gestalt, welche die Brücke annahm, war Die Philosophie der Freiheit. Sie wurde zu ihrem ersten Fundament und ihrer ersten Stufe, auf der die geistigen Stufen aufgebaut werden konnten.

Als ich Die Philosophie der Freiheit zum ersten Mal las, zu Ostern 1976, genau ein Jahr nach der ursprünglichen Christus-Erfahrung, erkannte ich schon beim ersten Lesen, dass ich dabei dasselbe geistige Licht hervorbringe, das mir in der Christus-Erfahrung geschenkt wurde. Ich erlebte sofort – auch wenn es natürlich viele Jahre dauerte, bis ich dies in der Praxis umsetzen konnte -, dass das geschenkte Christus-Licht und das Licht des reinen Denkens aus der gleichen geistigen Quelle stammen. Ich war unendlich erleichtert, denn ich fand in meiner Seele einen freien Raum, in dem die beiden Seiten meiner Existenz miteinander verbunden waren. Aber die beiden Seiten der Brücke waren nicht gleich. Ich konnte mich von der ätherischen Seite her hineinbilden, denn das reine Denken ist auch ein geistiger Vorgang, der im Ätherleib und in der Welt stattfindet.

Deshalb begann ich, die Brücke vom Ätherischen zum Physischen zu bauen. Das reine Denken und die ätherische Wahrnehmung verstärkten sich gegenseitig im vollen Bewusstsein. Und diese Erfahrung führte mich in den ersten Jahren meines dritten Jahrzehnts dazu, die Idee und das Ideal der „Brücke“ in ihrer ursprünglichen Form auszugestalten.

Nachdem ich intensiv am ätherischen Teil der Brücke gearbeitet hatte, durch das spiritualisierte Denken in meinen 20er-Jahren, kam ich zu einem Punkt, an dem ich mir selbst sagen konnte: In Hinsicht auf die Entwicklung des reinen Denkens, basierend auf Goethes Weltanschauung, Wahrheit und Wissenschaft, Philosophie der Freiheit und Rätsel der Philosophie habe ich einige Fortschritte gemacht. Gegen Ende meiner 20er-Jahre bemerkte ich, dass dies zwei miteinander verknüpfte Veränderungen in meinem Denk- und Imaginationsvermögen bewirkte. Das Denken wurde der Imagination immer verwandter, und die Imagination wurde durch das Denken völlig umgewandelt. Einerseits konnte ich meine imaginative Wahrnehmung nach Belieben durchdringen und verstärken und sie mit dem Licht des reinen Denkens erfüllen. Dies ermöglichte es mir, den kognitiven „Begriff“ und die erfahrene übersinnliche „Wahrnehmung“ in größerer Klarheit zu vereinen. Einerseits vergeistigte die imaginative Wahrnehmung das Denken und hob es auf die Ebene der Imagination. Vergeistigtes Denken verlieh der imaginativen Wahrnehmung Konsistenz und Klarheit, imaginative Wahrnehmung verwandelte das vergeistigte Denken in imaginative Wahrnehmung. Als ich das Ende meiner 20er-Jahre erreichte, konnte ich es als einen bedeutenden Fortschritt erleben, dass das vergeistigte Denken meine imaginative Wahrnehmung in ein robusteres, klareres und geformteres Erkenntnisvermögen umwandelte, und das vergeistigte Denken selbst wurde zur imaginativen Fähigkeit. Der Wesenstausch zwischen vergeistigtem Denken und Imagination wurde zu einem Strom, mit zwei eng miteinander verbundenen Funktionen, und ich konnte ihn als reife Erkenntnis-Fähigkeit nutzen.

Darüber hinaus konnte ich nun in der ätherischen Welt der lebendigen übersinnlichen ‚Wahrnehmung‘ stehen und von der ätherischen Welt aus ‚zurückblicken‘ und die durch dieses vergeistigte Denken im Ätherleib verursachten Veränderungen erfassen. Ich konnte die lebendig eingeprägten Fußspuren des vergeistigten Denkens im höheren Teil des Ätherleibes wahrnehmen, der angrenzt an die Schwelle des gewöhnlichen Erkennens. Von der anderen, irdischen Seite wurde in dem durch das vergeistigte Denken geschaffenen ätherischen Gegenstück mein geistiges Sein und Wirken in der ätherischen Welt widergespiegelt, und das Christus-Erlebnis konnte in immer klarere imaginative Gestalten und Formen gebracht werden. Die neue Kraft des aus dem spiritualisierten Denken der Philosophie der Freiheit stammenden geistigen Lichtes erlaubte mir nun, in diesem Teil des Ätherleibes die reflektierten Ergebnisse meiner imaginativen Untersuchungen in der ätherischen Welt wahrzunehmen. Es war, als ob dieses vergeistigte Denken einen Teil des Ätherleibes in einen ätherischen Spiegel verwandelte, der die imaginativen Erfahrungen reflektieren konnte, so wie das physische Gehirn gewöhnliche Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen reflektiert. Ich konnte auf diese Weise beginnen, meine ätherisch-imaginativen Erfahrungen und Untersuchungen in der ätherischen Welt zu er-innern und sie bewusst von „dort drüben“ in den spiritualisierten Teil meines gewöhnlichen Bewusstseins „hier unten“ zu tragen und sie als zwei Seiten desselben Erkenntnisprozesses und -kosmos zu identifizieren; ich konnte zum ersten Mal eine Fortsetzung des Bewusstseins aus dem Ätherischen in das vergeistigte Denken hinein erreichen, das ich willentlich in der physischen Welt verwirklichen kann. Diese Seite der Brücke erstreckte sich nun vom imaginativen Bewusstsein zum vergeistigten Denken; ich konnte auch spüren, dass das übersinnliche Selbstbewusstsein, das in der gegebenen Christus-Erfahrung ein gegebenes Geschenk war, sich mit meinem gewöhnlichen „Ich“ verbinden konnte, insofern das „Ich“ die Quelle des vergeistigten Denkens war. Der Augenblick des Zusammentreffens meiner beiden „Ichs“ war ein großes Ereignis, das auch im ersten Vortrag von Menschendämmerung und Auferstehung der Menschheit beschrieben ist. Mein geistiges Sein und die Tätigkeit meines Ich wurden in beiden Welten zu einem kontinuierlichen Strom, denn die imaginativen Wahrnehmungen und Erfahrungen wurden in dem Spiegel reflektiert, der durch das spiritualisierte Denken im Ätherleib geschaffen wurde, und ich konnte sie als zu ein und demselben Ich gehörig erleben.

Diese neue Fähigkeit war eindeutig das Ergebnis der Spiritualisierung des Denkens mit Hilfe der gegebenen ätherischen Kräfte des ätherischen Christus. Der Wesenstausch zwischen imaginativem Erkennen und spiritualisiertem Denken vergeistigte beide Aktivitäten in kontinuierlichen Atemzyklen und Rhythmen der Intensivierung. Er verband beide in einer höheren Synthese und schuf die erste Seite der Brücke der Bewusstseinserhaltung.

Ich war mir jedoch vollständig bewusst, dass die Brücke nur von oben nach unten errichtet war und nur den oberen Teil des Ätherleibes erreichte. Mein gewöhnliches kognitives Leben in der physischen Welt, das in Sinneswahrnehmungen und der Bildung von Vorstellungen seinen Lauf nahm, befand sich unterhalb dieses ätherischen Spiegels und war meinen höheren Erkenntniskräften nicht direkt zugänglich.

Bis zu diesem Stadium konnte die Brückenarbeit bis zum Ende meiner 20er-Jahre voranschreiten. Ich konnte mein Bewusstsein und mich selbst von oben nach unten zu den oberen Schichten des Ätherleibes überbrücken, wo sich vergeistigtes Denken mit imaginativer Wahrnehmung vereinigte. In der Tat erlaubte mir der durch das spiritualisierte Denken geschaffene ätherische Spiegel auch im gewöhnlichen Bewusstsein bis zu einem gewissen Grad eine Spur und ein Echo unserer imaginativen Erfahrungen zu erinnern und in Begriffe zu fassen. Das war eine Quelle großer Befriedigung, aber andererseits schärfte es auch die Erfahrung dafür, dass mein Bewusstsein immer noch geteilt ist und die Kräfte der geistigen Erkenntnis nicht in den physischen Leib und die physische Welt eindringen können. Es gab immer eine Barriere und einen Schleier, die das Licht meiner imaginativen Wahrnehmung und Erkenntnis von dem Licht dieser Welt trennten. Ich spürte, dass ich nicht so vollständig inkarniert bin wie andere Menschen. Und ich intensivierte meine Suche nach den Erkenntniskräften, von denen solche starken Kräfte ausgehen könnten, die mir erlauben würden, die Brücke von der ätherischen zur physischen Welt zu erweitern.

In meinem gewöhnlichen Bewusstsein konnte ich mir das Ziel der vor mir liegenden Brückenarbeit in seiner anthroposophischen idealen Form sehr gut vorstellen. Es wurde von meinem gewöhnlichen Bewusstsein klar erfasst. Als ich auf meine 30er-Jahre zuging, konnte ich fühlen, dass nun eine entscheidende Bewährungsprobe für das Erkenntnisdrama der Wiederkunft beginnt. Im Idealfall wusste ich, was erforderlich ist, um den zweiten Teil der Brücke zu vollenden: Man muss sich den Todeskräften im physischen Gehirn, Körper und in der Welt im paulinischen Sinne stellen: „Und jetzt, als Paulus das begriffen hatte, erkannte er eben erst die Wahrheit des esoterischen Christentums: Die Aufnahme des Todes in das Leben, das ist das Geheimnis von Golgatha.“ (Vortrag vom 2. April 1922, GA 211). Dieses Geheimnis muss – so sagte ich mir in dieser Zeit meines Lebens – die leitende Inspiration werden. Dies ist der einzige Weg, der zu der geheimnisvollen Verbindung zwischen den Todeskräften und den Gestaltungskräften der physischen und imaginativen Erkenntnis und dem Geheimnis des geistigen Selbstbewusstseins führen kann. Dies ist der Schlüssel zu dem Rätsel, wie die gegebene Christus-Erfahrung durch das Erkenntnisdrama der Wiederkunft in die voll bewusste Christus-Erfahrung verwandelt und nachvollzogen werden kann. Aber in den kommenden Jahren, als ich begann, an dieser Aufgabe zu arbeiten, und mich bemühte, die Seelenkräfte zu schaffen, die notwendig sind, um die Todeskräfte des gewöhnlichen Bewusstseins zu überwinden, begegnete ich auf diesem Weg großen Hindernissen…